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Wer weiß, welche Abfälle der Gegenwart die folgenden Äonen menschlicher Geschichte überleben werden? Es könnte etwas ganz Einfaches sein, ein scheinbar bedeutungsloser Gegenstand. Dennoch wird er eine Saite zum Klingen bringen und die Jahrtausende überdauern.
Mutter Oberin Raquela Berto-Anirul,
Gründerin der Bene Gesserit
Es war bereits das vierte ihr unvertraute Schlafzimmer, in dem Lady Anirul nach einer unruhigen Nacht aus dem Bett sprang und zur Tür lief. Die Stimmen verfolgten sie wie Schatten. Selbst der Geist von Lobia hatte sich dem lärmenden Chor angeschlossen und bot ihr keine Hilfe und keine Zuflucht mehr.
Was versucht ihr mir zu sagen?
Die stets wachsame Medizinschwester Yohsa näherte sich. Ihre Arme hingen locker herab, aber sie hatte eine subtile Kampfhaltung eingenommen, um zu verhindern, dass Anirul an ihr vorbeikam. »Mylady, Sie müssen wieder zu Bett gehen, damit Sie Ruhe finden.«
»Dort gibt es keine Ruhe für mich!« Anirul trug ein weites Nachthemd, das an ihrer schweißfeuchten Haut klebte, und ihr kupferbraunes Haar stand in alle Richtungen ab. Falten und Schatten hatten sich in ihre Gesichtszüge gegraben, vor allem um die blutunterlaufenen Augen.
Zuvor hatte Anirul ihren Dienern ungestüme Anweisungen gegeben, ihr großes Bett und das schwere Mobiliar von einem Zimmer zum nächsten zu tragen, auf der Suche nach einem Ort, wo es einigermaßen ruhig war. Aber nirgendwo verspürte sie auch nur einen Hauch von Erleichterung.
Yohsa sprach mit beherrschter Stimme. »Wie Sie meinen, Mylady. Dann werden wir nach einem neuen Zimmer für Sie suchen ...«
Anirul schwankte, als stünde sie kurz vor einer Ohnmacht, dann stieß sie unvermittelt zu und brachte die Medizinschwester aus dem Gleichgewicht. Die kleine Frau stürzte über einen Tisch, und eine teure Vase zerschellte am Boden. Anirul sprang an ihr vorbei und flüchtete durch den gefliesten Korridor. Dabei prallte sie mit einem Hausmädchen zusammen, dem ein Frühstückstablett aus den Händen fiel.
Anirul rannte wie besessen, bog um eine Ecke und wäre beinahe auf dem glatten Boden ausgerutscht. Als Nächstes stieß sie mit Mohiam zusammen, worauf sich die Papierzettel und ridulianischen Kristalle, die die Wahrsagerin bei sich trug, in der Umgebung verteilten. Mohiam reagierte schnell und achtete nicht weiter auf die Dokumente, sondern nahm die Verfolgung auf. Aber sie hatte keine Chance. Kurz darauf hatte die keuchende Yohsa sie eingeholt.
Vor ihnen riss Anirul mit wirrem Blick die Tür zu einem Treppenhaus auf. Sie stürmte hindurch, doch dann verfing sich ihr Fuß im Saum des Nachtgewands. Schreiend fiel sie die Treppe hinunter.
Als die Bene-Gesserit-Schwestern die Szene erreichten, bemühte sich Anirul gerade, sich vom Treppenabsatz zu erheben, auf dem sie mit einigen Blessuren gelandet war. Mohiam eilte hinunter und ging neben der Imperatorengattin in die Knie. Sie tat, als wollte sie sie stützen, doch indem sie Aniruls Arm griff und ihre andere Hand um die Taille der jüngeren Frau legte, hinderte die Ehrwürdige Mutter sie an einem weiteren Fluchtversuch.
Yohsa näherte sich und musterte die Verletzungen. »Ein derartiger Zusammenbruch war nur eine Frage der Zeit. Und ich befürchte, dass es immer schlimmer wird.« Die Medizinschwester hatte ständig die Dosis der starken psychotropen Drogen erhöht, aber selbst damit war es ihr nicht gelungen, den Ansturm der Weitergehenden Erinnerungen zurückzudrängen.
Mohiam half der verletzten Schwester auf die Beine. Aniruls Augen huschten im schattigen Treppenhaus hin und her, als wäre sie ein in die Enge getriebenes Tier. »Die inneren Stimmen lassen sich nicht zum Schweigen bringen. Sie wollen, dass ich mich zu ihnen geselle.«
»Sagen Sie so etwas nicht, Mylady.« Mohiam setzte einen leicht beruhigenden Tonfall der Stimme ein, die jedoch keine Wirkung auf Anirul zu haben schien. Die Medizinschwester drückte ein Schnellheilungspflaster auf ihre blutende Stirn. Gemeinsam hoben sie die Gattin des Imperators auf und führten sie langsam zu ihren Gemächern zurück.
»Ich höre, wie sie alle gleichzeitig in meinem Kopf rufen. Aber es sind nur Satzfragmente in den unterschiedlichsten Sprachen, von denen mir manche vertraut und andere völlig unbekannt sind. Ich verstehe nicht, was sie mir mitteilen wollen, warum sie so aufgeregt sind.« Aniruls Stimme zitterte vor Sorge. »Lobia ist auch darunter, aber nicht einmal sie kann sich im Lärm verständlich machen und mir helfen.«
In den Räumen schenkte die Medizinschwester Gewürztee aus einer Kanne ein. Anirul ließ sich auf eine alte raphaelizianische Couch fallen und richtete den Blick ihrer haselnussbraunen Augen auf die dunkle Gestalt Mohiams. »Yohsa, lassen Sie uns allein. Ich muss mit der Imperialen Wahrsagerin reden. Allein.«
Widerstrebend gab sich die Medizinschwester geschlagen und ging. Auf dem Sofa atmete Anirul tief und erzitternd durch. »Geheimnisse können eine sehr schwere Bürde sein.«
Mohiam musterte sie aufmerksam und nahm einen Schluck Gewürztee. Sie spürte, wie die Melange allmählich ihr Bewusstsein steigerte. »So habe ich es nie zuvor betrachtet, Mylady. Ich hielt es immer für eine große Ehre, mit bedeutenden Informationen vertraut zu sein.«
Lady Anirul trank ebenfalls vom lauwarmen Tee und runzelte die Stirn, als würde er eine übel schmeckende Medizin enthalten. »Bald wird Jessica eine Tochter gebären, die dazu bestimmt ist, die Mutter des lang erwarteten Kwisatz Haderach zu werden.«
»Mögen wir lange genug leben, um dabei zu sein«, sagte Mohiam, als würde sie ein Gebet sprechen.
Anirul wirkte nun wieder völlig vernünftig. »Aber als Kwisatz-Mutter mache ich mir ernsthafte Sorgen. Nur ich allein sehe und erinnere mich an alle Aspekte unseres Zuchtprogramms. Warum sind die inneren Stimmen so unruhig? Und warum ausgerechnet jetzt, wo wir dem Ziel so nahe sind? Wollen sie uns vor einer Gefahr warnen, die Jessicas Kind droht? Wird es zu einem Unglück kommen? Wird die Mutter des Kwisatz Haderach nicht so sein, wie wir erwarten? Oder hat es mit dem Kwisatz Haderach selbst eine besondere Bewandtnis?«
»Es sind nur noch zwei Wochen«, sagte Mohiam.
»Ich habe entschieden, dass Jessica zumindest einen Teil der Wahrheit erfahren soll, damit sie sich und das Kind besser beschützen kann. Jessica muss sich ihrer Bestimmung und ihrer Bedeutung für uns alle bewusst sein.«
Mohiam nahm einen weiteren Schluck Tee und versuchte, ihre Überraschung angesichts dieses Vorschlags zu verbergen. Sie war ihrer geheimen Tochter sehr zugetan, die außerdem auf Wallach IX jahrelang ihre Schülerin gewesen war. Jessicas Zukunft und ihr Schicksal waren größer als das von Mohiam oder Anirul. »Aber ... ist es gut, ihr so viel zu offenbaren? Sie wollen, dass ich es ihr verrate?«
»Schließlich sind Sie ihre leibliche Mutter.«
Ja, Mohiam sah ein, dass das Mädchen zumindest einen Teil der Wahrheit erfahren musste. Trotz ihres kritischen Zustands hatte Lady Anirul in diesem Punkt Recht. Aber Jessica sollte niemals von der Identität ihres Vaters Kenntnis erlangen. Das wäre zu grausam.